Innovation Watch - Fortschritt neu denken!

In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift agora42 wird das Thema „Fortschritt – wohin geht die Reise?“ behandelt – und zwar, wie gewohnt, spannend aus ökonomischer und philosophischer Perspektive. Die aktuelle agora42 ist seit langem wieder einmal eine Zeitschrift, die ich von vorne bis hinten verschlungen habe. Die Beiträge der unterschiedlichen Autoren haben mich zum Nachdenken angeregt. Und ich habe auf dieser Basis mein eigenes kleines Fortschritts-Modell entwickelt, das ich im Folgenden kurz vorstellen möchte.

Professor Bernhard Taureck definiert Fortschritt in der agora42 als „eine Zunahme der universellen Lebenserleichterung auf dem Wege technischer Entwicklungen, verbunden mit Erweiterungen von Freiheitsrechten aller Menschen“. Die „einfachste Formel des Fortschritts“ ist daher die Differenz aus Erleichterung (E) und Nachteil (N) einer Maschine (M), also

 

M = E – N,

 

wobei die Erleichterung größer als Null und größer als der Nachteil sein sollte.

 

Doch trotz dieser einfachen Formel, der wohl fast jeder zustimmen kann, ist der Fortschrittsbegriff in Verruf geraten. So schreibt Professor Peter Finke in seinem Beitrag für agora42: „Die uns heute vertraute Fortschrittsskepsis ist längst schon zu einer Krise des Fortschrittsbegriffs geworden.“ Ich habe mich gefragt, woran das wohl liegen kann.

 

Meiner Ansicht nach sieht die Formel für Fortschritt zwar einfach aus, ist es aber nicht. Dies liegt daran, dass sowohl die Erleichterungen als auch die Nachteile einer Technologie mehrere Dimensionen besitzen. Ich habe folgende zwei Dimensionen identifiziert:

  • Zeitliche Dimension: Erleichterungen und/oder Nachteile einer Technologie können kurzfristig und/oder langfristig auftreten.
  • Räumliche Dimension: Erleichterungen und/oder Nachteile einer Technologie können bei Hersteller / Nutzer der Technologie auftreten (internalisiert) und/oder bei anderen (externalisiert).

Aus den beiden Dimensionen lässt sich folgendes Portfolio erstellen:

 

Fortschritts-Portfolio
Fortschritts-Portfolio

Meiner Ansicht nach umfasst der alte Fortschrittsbegriff lediglich die zeitliche Dimension „kurzfristig“ und die räumliche Dimension „internalisiert“. Dies führt dazu, dass sowohl Hersteller als auch Anwender von Technologien auf eine kurzfristige Erleichterung abzielen und langfristige Konsequenzen ausblenden. Ein Beispiel für langfristige Konsequenzen einer Technologie ist die Endlagerproblematik in der Atomenergie. Ebenso sind Unternehmen und Kunden darauf aus, die Erleichterungen einer Technologie zu internalisieren und die Nachteile zu externalisieren. Ein aktuelles Beispiel liefern uns diverse Finanzinstitutionen im Rahmen der Finanzkrise. Die aktuellen finanziellen Probleme einiger Länder zeigen im Übrigen, dass nicht nur Unternehmen und Verbraucher, sondern auch Politiker von den Dimensionen betroffen sind.

 

Dieses Fortschrittsverständnis ist jedoch nicht mehr zeitgemäß. Mehr und mehr wird die gesellschaftliche Forderung laut, auch die langfristigen Konsequenzen zu berücksichtigen und möglichst alle Konsequenzen einer Technologie zu internalisieren. Dies führt beim derzeitigen Stand der Technik natürlich zu teils paradoxen Forderungen. Einige Beispiele beschreibt Gabriel Gerlinger in der agora42: „Was wir wollen, ist Mobilität ohne fossile Brennstoffe, geschmeidige Haut ohne Tierversuche, Bananen ohne Importe, Plastik ohne Kunststoff.“

 

Auf der anderen Seite bietet dieses Verständnis von Fortschritt jedoch auch Potenziale. Unternehmen können ihre Innovationsbemühungen darauf ausrichten, langfristige und externalisierte Konsequenzen ihrer Produkte anzugehen (siehe obige Beispiele von Gabriel Gerlinger). Verbraucher können vermehrt Produkte nachfragen, die diese Konsequenzen berücksichtigen. Natürlich bietet auch diese neue Fortschrittsdefinition genug Raum für Diskussionen. Allerdings hoffe ich, dass das vorgestellte Portfolio etwas mehr Klarheit schafft und dazu beiträgt, dass wir für unsere Gesellschaft wieder einen tauglichen Fortschrittsbegriff finden. Denn, so schreibt Professor Peter Finke in der agora42: „Wenn Fortschritt negativ wird, müssen wir etwas tun, um ihn wieder ins Positive zu wenden.“

 

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