Knowledge Watch - Placebo-Controlling

Ein Freund aus dem IT-Bereich hat mir kürzlich berichtet, dass in seinem Bereich die Mitarbeiter jetzt zu viert im Büro sitzen. Eigentlich sollten es zwölf Mitarbeiter pro Büro werden, aber dies wurde dann doch als unrealistisch verworfen. Mein Freund dazu: „Du kannst Dir nicht vorstellen, was das für die Produktivität bedeutet, wenn Du mit drei Kollegen in einem Raum sitzt. Man hat keine ruhige Minute mehr.“ Da habe ich mich gefragt, wie solche Überlegungen und Entscheidung zustande kommen. Meiner Ansicht nach kann man das nur durch eine Form des Controllings erklären, die ich hier einmal „Placebo-Controlling“ nennen möchte.

„Placebo“ bedeutet vom lateinischen Ursprung her „ich werde gefallen“ und ist ein Begriff aus der Medizin. Dort bezeichnet es Scheinmedikamente, deren Wirkung nicht auf einem pharmazeutischen Wirkstoff beruht, sondern auf der Erwartungshaltung des Patienten. Im weiteren Sinn werden darunter auch Scheinoperationen verstanden. Der Placebo-Effekt äußert sich im Wesentlichen als positive Veränderung im subjektiven Befinden. Da der Effekt von der Erwartungshaltung des Patienten abhängt, variiert die Wirkung mit den Verabreichungsbedingungen. Z.B. vom Arzt verabreichte Placebos wirken besser als von der Krankenschwester verabreichte. Injektionen wirken besser als Pillen, große Pillen wirken besser als kleine, rote Pillen wirken besser als blaue. Einen guten Überblick über den Placebo-Effekt gibt es auf www.skeptic.com unter: http://www.skeptic.com/eskeptic/09-05-20/

 

Der Grund, warum in der Medizin viele Medikamente und Heilverfahren existieren, die aufgrund ihrer Wirkung als Placebo eingestuft werden müssten (z.B. Homöopathie), liegt daran, dass von den Befürwortern lediglich einfach zu ermittelnde Daten zur Überprüfung herangezogen werden. So wird in der Regel zur Begründung auf anekdotische Erfahrung gesetzt statt auf statistische Versuche (am besten auf „randomisierte Doppelblindversuche“). Die Argumentation geht im Wesentlichen so: „Ich habe (mein Patient, ein Bekannter, ein Bekannter eines Bekannten hat) das Mittel eingenommen. Ich fühle mich (er fühlt sich) besser. Ergo, das Mittel hat ihn gesund gemacht.“ Dabei werden andere Wirkungen – insbesondere Fern- und Nebenwirkungen – konsequent ausgeblendet und in den meisten Fällen lediglich ein unnötiger Aktionismus betrieben. Motto: Mit dem Medikament dauert die Krankheit eine Woche, ohne das Medikament sieben Tage. Aber man hat wenigstens etwas gemacht und nicht nur faul im Bett rumgelegen.

 

Beim Placebo-Controlling liegt der Fokus rein auf den Kosten, die direkt ermittelt werden können. Also z.B. zwölf Mitarbeiter in einem Raum verursachen weniger Kosten als vier Mitarbeiter in einem Raum. Je weniger Kosten verursacht werden, desto besser. Gemäß dem Spruch, den der Boss von Dilbert in einem Cartoon äußert: „Wenn ich die Kosten auf Null fahre, dann ist mein Umsatz gleich meinem Gewinn.“ Die Argumentation geht dabei wie folgt: „Wir haben die Maßnahme durchgeführt. Die Kosten sind geringer. Ergo, die Maßnahme hat das Unternehmen verbessert.“ Dabei werden andere Wirkungen – insbesondere Fern- und Nebenwirkungen – konsequent ausgeblendet und in den meisten Fällen lediglich ein unnötiger Aktionismus betrieben.

 

Nun werden Sie vielleicht denken: Wenn die Paten bzw. die Unternehmenslenker sich besser fühlen, dann ist das doch in Ordnung. Also, was soll´s? Vorsicht ist bei Placebos jedoch in folgender Hinsicht geboten:

  • Placebos funktionieren nicht, wenn der Patient schläft oder ohnmächtig ist, d.h. der Patient muss wissen, dass er behandelt wird.
    D.h. im übertragenen Sinn: Je mehr der Controller dem Vorstand bzw. der Geschäftsführung von seinem Placebo-Controlling berichtet, desto besser wirkt es. Also, möglichst viele PowerPoint-Folien mit Kuchen-, Balken- und Trenddiagrammen basteln.
  • Placebos können nicht verhindern, dass Frauen schwanger werden, oder schwere Erkrankungen wie Krebs oder gebrochene Knochen heilen. Sie wirken bei leichteren, eher schwer fassbaren Erkrankungen wie Kopfschmerzen, Depressionen oder Verdauungsstörungen.
    D.h. Placebo-Controlling löst nicht die wirklichen Probleme eines Unternehmens, sondern verliert sich oft in nebensächlichen Kleinigkeiten. So kommt es, dass bei Unternehmen gerne einmal Kosten im C-Bereich eingespart werden, z.B. keine Kekse mehr bei Meeting – oder eben zwölf Wissensarbeiter in einem Büro landen.
  • Wenn der Patient nicht mehr an das Placebo glaubt, kann daraus ein Nocebo werden. Bei einem Nocebo erfolgt im Gegensatz zum Placebo eine negative Reaktion auf die Behandlung (Nocebo = ich werde schaden).
    D.h. wenn Vorstand resp. Geschäftsführung einmal durchschaut haben, dass sie einem Placebo-Controlling unterliegen, trauen sie – zumindest für eine gewisse Weile – keiner Kennzahl mehr.

So kann es bei der Einführung neuer Kennzahlen im Controlling passieren, dass sich folgender Dialog zwischen Berater und Controller entspinnt:

 

Berater: „Wenn Sie nun Abweichungen von der Kennzahl feststellen, können Sie mit den Mitarbeitern die Ursachen ermitteln und abstellen.“

Controller: „Nein, jetzt kann ich dem Vorstand die Abweichung von der Kennzahl darstellen. Das reicht mir.“

 

So dient das Controlling dem Controller anscheinend nur noch dazu, dem Vorstand zu gefallen. Wie schon die Lateiner wussten: „Placebo!“ – „Ich werde gefallen.“

 

P.S.: Zur Ehrenrettung der Controller sei gesagt, dass es wirklich einige gibt, die ihren Job ernst nehmen, d.h. die sich die Mühe machen, auf die hinter den Zahlen gelegenen technischen Vorgänge zu schauen, und ab und an einmal ihr Büro verlassen, um sich vor Ort im Werk ein Bild von den Dingen zu machen. Ich hoffe, dass es sich hierbei nicht um eine vom Aussterben bedrohte Spezies handelt.

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